Vier-Schritte-Modell zur ethischen Entscheidungsfindung anhand eines Beispiels

An einem Beispiel erläutert

Sie müssen eine schwierige Entscheidung treffen. Das Modell «Ethische Entscheidungsfindung» will Sie darin unterstützen.

Handelt es sich um ein ethisches Problem?

Nicht jede schwierige Frage ist ein ethisches Problem: Soll ich noch ein Stück Kuchen essen? Ist es richtig, Entführern Lösegeld zu zahlen? Darf ich meiner Freundin sagen, dass ich keine Zeit fürs Kino habe und arbeiten muss (weil ich lieber die Sendung «Tatort» schauen möchte)? Soll ich einen Parksünder vor meinem Haus anzeigen? Soll man befruchtete Eizellen nach Geschlecht selektionieren dürfen? Darf ich meiner Arbeitskollegin sagen, dass ich ihr Parfüm widerlich finde?

Wenn Sie zum Schluss kommen, dass die Problemstellung eher eine Frage der Vernunft oder der Höflichkeit ist, ist keine ethische Entscheidungsfindung angezeigt.

Wenn Sie zum Schluss kommen, dass die Problemstellung ethisch-moralische Fragen aufwirft, kann das Durchlaufen des Vier-Schritte-Modell zur ethischen Entscheidungsfindung hilfreich sein.

Schritt 1, Fallbeschreibung: Welche Lösungen scheinen möglich?

Beschreiben Sie den Fall resp. die Situation so gut als möglich mit allen möglichen Komponenten, die Ihnen dazu einfallen. Halten Sie gegebenenfalls Stichworte fest. Beim Überlegen werden Ihnen auch mögliche Lösungen einfallen oder Sie versuchen für sich, mögliche Lösungen abzuleiten. Halten Sie auch diese fest.

Fall / Situation:

Sie möchten gerne die Sendung «Tatort» schauen. Ihre Freundin möchte gerne ins Kino gehen. Sie wissen: Der Kinofilm wird Sie langweilen. Sie hatten schon lange keinen ruhigen Sonntagabend mehr. Die Freundschaft ist Ihnen wichtig. An Ihrem Arbeitsort werden alle über den neusten Tatort sprechen, und sie würden gerne mitreden können.

Mögliche Lösungen:

  • Sie erzählen Ihrer Freundin, dass Sie so viel Arbeit haben, dass Sie unmöglich ins Kino gehen können.
  • Sie sagen Ihrer Freundin, dass Sie lieber Tatort schauen wollen.
  • Sie sagen Ihrer Freundin nichts, gehen mit ins Kino und langweilen sich im Film

Schritt 2: Moralische Fragestellung ableiten

Leiten Sie eine moralische Fragestellung ab. Diese ergibt sich aus der Irritation, welche die möglichen Lösungen bei Ihnen auslösen.

Lösung Moralische Frage
Lösung a)
«Habe zu viel Arbeit»
Darf ich meine Freundin anlügen?
Lösung b)
«Schaue lieber Tatort»
Darf ich meinen eigenen Wunsch über denjenigen meiner Freundin stellen?
Lösung c)
«Langweile mich beim Kinofilm»
Muss ich zugunsten anderer auf meine Bedürfnisse verzichten?

Schritt 3: Welche Werte/ Normen werden berührt?

Überlegen Sie sich, welche Werte und/oder Normen durch die moralischen Fragen berührt werden. Listen sie alle, die ihnen relevant erscheinen, auf.

LösungWerte und/oder Normen
Lösung a)
«Habe zu viel Arbeit»
Pflicht zur Wahrheit, Lügen, Ehrlichkeit, Autonomie, Achtsamkeit sich
selbst gegenüber, Sparsamkeit, Würde, …
Lösung b)
«Schaue lieber Tatort»
Ehrlichkeit, Freundschaft, Achtsamkeit sich selbst gegenüber, Altruis-
mus, Fürsorge der Freundin gegenüber, Gesundheit, Sparsamkeit …
Lösung c)
«Langweile mich beim Kinofilm»
Pflicht zur Wahrheit, Achtsamkeit sich selbst gegenüber, Altruismus,
Autonomie, Freundschaft, Lügen, Treue, Würde, …

Schritt 4: Moralische Gewichtung der einzelnen Lösungen

Wählen Sie für jede Lösung die für Sie intuitiv wichtigsten Werte/Normen aus, die sich zu widersprechen scheinen.

Nun gewichten Sie diese mit Argumenten und Punkten. 1: moralisch mässig relevant; 2: moralisch relevant; 3: moralisch sehr relevant.

Lösung Endesultat Wertung Punkte Beschreibung
a) «Habe zu viel Arbeit» -1 intuitiv positiv +2 Autonomie «Ich bin ein eigenständiger Mensch. Meine Bedürfnisse sollen nicht übermässig fremdbestimmt werden.»
intuitiv negativ -3 Lügen «Meine Partnerin nicht anzulügen ist für mich ein sehr wichtiges Prinzip.»
b) «Schaue lieber Tatort» +1 intuitiv positiv +3 Achtsamkeit sich selbst gegenüber «Es ist für mich wichtig, dass ich Dinge tue, die mir guttun, damit ich meine Batterien wieder aufladen kann.»
intuitiv negativ -2 Fürsorge der Freundin gegenüber «Ich finde, dass ich sonst schon sehr viel in die Beziehung investiere.»
c) «Langweile mich beim Kinofilm» 0 intuitiv positiv +3 Altruismus «Eine Freude zu machen, das Gemeinsame zu pflegen, das erfordert eben gewisse Opfer.»
intuitiv negativ -3 Würde «Lügen und sich dann auch noch total langweilen, das fühlt sich für mich dop- pelt unwürdig an.»

Entscheidung

Fällen Sie eine Entscheidung. Die Punktzahl kann Ihnen dabei helfen.

Eine mögliche Entscheidung nach dem Durchlaufen dieser ethischen Entscheidungsfindung: «Ich sage meiner Freundin, dass ich lieber die Sendung Tatort schauen möchte.»

Es kann sein, dass Sie mehrere Lösungen vertreten können. Dann entscheiden Sie abschliessend.

Es kann sein, dass Ihnen die Lösungen unmoralisch erscheinen. Dann können Sie nochmals eine Entscheidungsfindung zwischen den Lösungen durchführen. Möglicherweise endet auch dieses Vorgehen in einem Dilemma.

Pdf-Datei: Entscheidungsfindung mit Beispiel