Gerechtigkeit
Begriffsklärung
Gerechtigkeit ist seit Aristoteles (385 bis 323 vor Christous) einer der umstrittensten Begriffe in der Ethik. Nicht, dass er unwichtig wäre, im Gegenteil. Gerechtigkeit scheint ein moralisches Grundbedürfnis zu sein. Doch die Beschreibungen des Begriffes liegen weit auseinander.
Kindergeburtstag: Der Papa bringt die Geburtstagstorte. Wie soll diese nun gerecht verteilt werden? Jede:r bekommt ein gleichgrosses Stück? Das Geburtstagskind bekommt das grösste Stück, weil es an diesem Nachmittag eine besondere Person ist? Das Kind mit dem grössten Hunger bekommt das grösste Stück? Der Papa bekommt das grösste Stück, weil er der einzige Erwachsene ist?
Konsens besteht einzig darin, dass Gerechtigkeit immer auf den Umgang mit anderen bezogen ist. Doch wie soll dieser Umgang sein? Gerechtigkeit ist ein Thema in allen Disziplinen, die sich mit dem Zusammenleben von Menschen befassen: Justiz, Politik, Pädagogik, Theologie u.a. Bei allen Disziplinen gilt Punkt konstant: Recht ist nicht immer gleich gerecht.
Erläuterungen
Gerechtigkeit ist eine der vier Prinzipien der biomedizinischen Ethik nach Beauchamp and Childress (Principles of biomedical Ethics, 1979). Die anderen drei sind: Autonomie, Fürsorge und Nicht Schaden. Die vier Prinzipien sind so etwas wie die „Leitbegriffe“ des moralischen Diskurses auf mittlerer Reichweite und müssen jeweils fallbezogen interpretiert werden. Sie gelten überdies prima facie, d.h. solange sie mit einem anderen Prinzip nicht in Konflikt geraten.
Das Prinzip der Gerechtigkeit fordert eine faire, gerechte Verteilung von Leistungen. Gleiche Fälle sollten gleichbehandelt werden, bei Ungleichbehandlung sollten moralisch relevante Kriterien konkretisiert werden. Diese moralisch relevanten Kriterien sind veränderbar bzw. kulturell unterschiedlich. Ein schönes Beispiel ist das Frauenstimm- und Wahlrecht:
Frauen wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in vielen Staaten kein Wahlrecht zugestanden. Auch von Frauen wurde dies lange nicht als ungerecht empfingen, weil Frauen schliesslich keine Männer seien. Ungleiches wurde folglich gerecht und zu Recht ungleich behandelt.
Inzwischen haben sich die Werte geändert. Zumindest im Hinblick auf das demokratische Wahlrecht entwickelte sich ein Konsens, dass Frauen und Männer gleichwertig sind und deshalb auch die gleichen Rechte bekommen sollen.
Doch, was ist gerecht?
Moderne Theorien gehen in der Regel davon aus, dass alle dieselben Rechte haben sollten. Gleichzeitig heisst dies aber nicht, dass alle das Gleiche bzw. gleichviel bekommen sollen. „Verteilt man etwas gleich, wird damit gleichzeitig etwas anderes ungleich verteilt sein“ (Mazouz, 2011, S. 374).
Beispiel: Für jede Schüler:in steht das Geld für eine Therapielektion zur Verfügung. Dieses Geld darf nur für die betreffende Schüler:in verwendet werden. Das Geld ist folglich gerecht pro Kopf verteilt. Das bedeutet gleichzeitig, dass jene Schüler:in welche dringend zwei Therapielektionen benötigen würde, nur eine erhalten wird.
Im obenstehenden Beispiel erscheint die Gleichbehandlung aller ungerecht. Derjenige, der etwas braucht bekommt es nicht, der andere bekommt etwas, was er nicht braucht.
Links
- Entscheidungssituationen: Retterbabies
- Entscheidungssituationen: Verteilung begrenzter Ressourcen (am Beispiel «Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit im Zusammenhang mit einer Epidemie»)
- Entscheidungssituationen: Selbstfahrende Autos
- Entscheidungssituationen: Trolley-Dilemma (am Beispiel des «Bahnbrückendilemmas» / Kurzfilm «Sommersonntag»)
- Prinzipenethik
Quelle
- Inhaltlich orientieren sich die Ausführungen in diesem Abschnitt an der folgenden Quelle:
- Mazouz, N. (2011): Gerechtigkeit. In: Düwell, M. et. al. (2011). Handbuch Ethik. Stuttgart. J.B. Metzler Verlag., 371 – 376.
- Wallimann-Helmer, I. ; Keller, M. (2018): Ethik für medizinische Berufe. Zürich. Versus Verlag AG.