Nachteilsausgleich
Begriffsklärung
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf diskriminiert werden. Diese Grundsätze sind in der Schweizerischen Bundesverfassung und im Behindertengleichstellungsgesetz festgeschrieben.
Eine Diskriminierung im Bildungsbereich liegt dann vor, wenn ein Mensch über Kompetenzen und Fähigkeiten verfügt, die er aufgrund einer Behinderung oder einer diagnostizierten Funktionseinschränkung nicht angemessen umsetzen resp. zeigen kann.
Durch einen Nachteilsausgleich sollen solche behinderungsbedingten Erschwernisse und Hürden so gut als möglich ausgeglichen werden.
Erläuterungen
Hinter übergeordneten, sehr grundlegenden gesetzlichen Vorgaben stehen meist moralische Überzeugungen, die eine Gesellschaft auf diese Weise sichern möchte. Im Fall des Nachteilsausgleichs sind es insbesondere das Gebot, dass kein Mensch aufgrund einer bestimmten Eigenschaft – wie beispielsweise einer Behinderung – diskriminiert werden darf.
Ein Nachteilsausgleich soll, wie es der Name sagt, gewisse behinderungsbedingte Nachteile ausgleichen. Allerdings:
- Ein Mensch mit schweren motorischen Beeinträchtigungen kann nicht mit einem Nachteilsausgleich Pilot werden, weil er wegen seinen Funktionseinschränkungen das Leben der Passagiere gefährden würde.
- Ein Mensch mit einer kognitiven Beeinträchtigung kann nicht Physikprofessor werden, weil er in Lehre und Forschung die Anforderungen, die an eine Physikprofessur gestellt werden, nicht erfüllen kann
Angenommen, ein Gesetz würde dennoch Menschen mit einer Behinderung eine solche Bevorzugung gewähren: Dies wäre ungerecht gegenüber Menschen ohne Behinderung, die lediglich über eine ungenügende Begabung (aber keine eigentliche Behinderung) verfügen.
Für welche Fälle ist nun aber ein Nachteilsausgleich gedacht und auch gesetzlich geboten?
Stellen wir und einen jungen Mann vor, der sehr stark stottert (siehe Bild oben). In verschiedenen Situationen kann er wegen seines Stotterns seine Intentionen, sein Wissen und Können nicht umsetzen – wie im Bild die Bestellung an einer Kaffee-Theke. Er weiss zwar, wie man einen Kaffee und eine Süssigkeit bestellt, schafft es aber kaum, dieses Ziel umzusetzen.
Stellen wir uns weiter vor, dass der junge Mann kurz vor den Lehrabschlussprüfungen zu einer anspruchsvollen Berufslehre steht: Er hat in den letzten vier Jahren Zimmermann gelernt. Unter anderem steht eine halbstündige mündliche Prüfung in Berufskunde an. Er hat gut gelernt und beherrscht das geforderte Wissen. Wegen seines Stotterns wird er aber keine Chance haben, dieses Wissen innerhalb der vorgegebenen 30 Minuten zu vermitteln.
Hier greifen die Bundesverfassung und das Behinderungsgleichstellungsgesetz: Es darf nicht sein, dass der begabte Zimmermann wegen seines Stotterns den Berufsabschluss verfehlt. Es ist für ihn eine individuelle Nachteilsausgleichsvereinbarung zu erstellen. Diese kann beispielsweise vorsehen, dass er für die mündliche Prüfung mehr Zeit zur Verfügung hat – oder aber es wird vereinbart, dass er die gestellten Fragen im Rahmen einer einstündigen schriftlichen Prüfung beantworten darf.
«Bewusste Ungleichbehandlung, um Gleichbehandlung zu erreichen»
Nachteilsausgleichsmassnahmen sind keine «Prüfungserleichterungen»: Der stotternde Zimmermannslehrling muss die gleichen fachlichen Anforderungen erfüllen wie seine Kolleginnen und Kollegen. Durch organisatorische oder technische Massnahmen wird lediglich die behinderungsspezifische Hürde, die das Zeigen seines Wissens und Könnens verhindert, aus dem Weg geräumt.
Aus ethischer Sicht sind bei der Gewährung eines Nachteilsausgleichs deshalb immer die folgenden Fragen zu stellen:
- Sind die getroffenen Massnahmen geeignet, um das legitime Recht der Person mit Behinderung einzulösen? Wird aufgrund der Massnahme eine Diskriminierung dieser Person wirksam verhindert?
- Stellen die individuell zugesprochenen Nachteilsausgleichsmassnahmen eine unangemessene Bevorzugung des Menschen mit Behinderung dar, welche die anderen Lernenden benachteiligt?
Im beschriebenen Fall (ein stotternder Prüfling darf eine bestimmte Prüfung schriftlich statt mündlich absolvieren) ist keine individuelle Bevorzugung gegeben. Aus diesem Grund ist diese Nachteilsausgleichsmassnahme auch problemlos zu legitimieren und im Bedarfsfall zu kommunizieren.
Links
Über den Link peterlienhard.ch/nta.zip können verschiedene Materialien zum Nachteilsausgleich heruntergeladen werden, unter anderem ein «Orientierungsrahmen Nachteilsausgleich» oder ein Raster für Nachteilsausgleichsvereinbarungen samt ausgefülltem Beispiel.
Quelle
- Bundesverfassung. Zugriff am 31.08.2020 unter https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/index.html
- Behindertengleichstellungsgesetz. Zugriff am 31.08.2020 unter https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20002658/index.html