Ein Beispiel für eine gesellschaftsrelevante ethische Frage: Wie weiter nach der sechsten Klasse? Schulische Selektion und Bildungsgerechtigkeit
Selektion gehört neben Förderung, Qualifikation, Inklusion und anderen zu den gesellschaftlichen Aufgaben von Schule. Die Funktionen von Schule sind teils widersprüchlich. Gerade die Selektionsfunktion ist nicht unumstritten.
Der Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe I (oder auch ins Gymnasium) stellt eine entscheidende Weichenstellung für die Bildungslaufbahn und die Berufsaussichten von Kindern dar. Da der Unterricht auf der Sekundarstufe I leistungsdifferenziert (in kantonal verschiedenen Modellen und/oder Schultypen) erfolgt, werden die Schüler:innen aufgrund ihrer Kompetenzen und Leistungen wie Zeugnisnoten, einer Übertrittprüfung oder der Empfehlung der Lehrperson einem bestimmten Leistungsniveau zugeteilt. Die Gruppierung von Schüler:innen in verschiedene Leistungsniveaus wird «schulische Selektion» genannt. Die meisten Kinder werden in der Regel im Alter von 12 Jahren in verschiedene Leistungsklassen eingeteilt.
Diskussion
Die schulische Selektion kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und sowohl positiv als auch negativ beurteilt werden. Zum Beispiel wirft die Art und Weise, wie Schüler:innen einer Leistungsstufe zugeteilt werden, Fragen auf: Wie gerecht ist das Übertrittsverfahren? Haben Schüler:innen mit privilegiertem Hintergrund (z.B. sozioökonomischer Status der Eltern) bessere Chancen, in diesen Verfahren erfolgreich zu sein? Treten unbewusste oder sogar bewusste Formen der Diskriminierung bei der Selektion auf, basierend beispielsweise auf dem Geschlecht oder aufgrund des Migrationshintergrunds eines Kindes?
Auch kann der Zeitpunkt oder die schulische Selektion an sich in Frage gestellt werden: Berücksichtigt der Zeitpunkt der Selektion auch die zukünftige Entwicklung und Reife der Kinder angemessen? Ist der Stress und der Druck, der so eine «Auslese» auslösen kann, altersgerecht? Schränkt die frühe Selektion das Potenzial der Kinder ein, sich später zu verbessern oder ihre Interessen und Fähigkeiten angemessen zu erkunden? Ist die schulische Selektion eine bewährte Möglichkeit, begabte Schüler:innen zu identifizieren und entsprechend zu fördern? Sind Lernende besonders motiviert, wenn sie in die höchste Leistungsklasse eingeteilt werden? Können durch die schulische Selektion Ressourcen effizienter genutzt werden?
Bildungsgerechtigkeit
In der NZZ erschien Ende April (2024) ein Artikel zu diesem Thema. Anstoss gab eine Studie, in der die Mehrheit von 1162 befragten Deutschschweizer Schulleitenden eine Abschaffung der Selektion in der sechsten Klasse befürworten. Begründet wird die «radikale Idee» mit Forderungen nach (mehr) Gerechtigkeit. Die Frage nach der (gerechten) Selektion ist eine Frage der «Bildungsgerechtigkeit».
Die Forderungen nach Gerechtigkeit im Bildungsbereich, die sich beispielsweise auch in der Idee der Abschaffung von (Zeugnis-)Noten spiegelt, sind bedeutende sozial- und bildungspolitische Fragen der Gegenwart. Bildungsgerechtigkeit kann als der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg respektive -misserfolg gedeutet werden. Der Begriff «Bildungsgerechtigkeit» ist allerdings bedeutungsüberfrachtet und gleichzeitig wenig aussagekräftig. Es handelt sich also nicht um einen Begriff, mit dem sich objektiv eine bestimmte Qualität des Bildungssystems beschreiben lässt, denn ob etwas – Selektion, Schulnoten – als «gerecht» oder «ungerecht» empfunden wird, ist subjektiv.
Beiträge:
NZZ am Sonntag: René Donzé: «Fertig Stress in der sechsten Klasse: Schulleiter lancieren eine radikale Idee zur Abschaffung von Langgymnasien und Sekundar-Niveaus» (27.04.2024)
SRF: Yvonne Hafner: Gehören Schulnoten abgeschafft? (06.09.2023)
Literatur:
Inhaltlich orientieren sich die Ausführungen in diesem Abschnitt an:
Faller, C. (2019). Bildungsgerechtigkeit im Diskurs: eine diskursanalytische Untersuchung einer erziehungswissenschaftlichen Kategorie (Rekonstruktive Bildungsforschung). Wiesbaden [Heidelberg]: Springer VS.
Heid, H. (2019). Gerechtigkeit? Was im Diskurs über Bildungsgerechtigkeit nicht ausser Acht bleiben sollte. In J. Bellmann & H. Merkens (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit als Versprechen: zur Rechtfertigung und Infragestellung eines mehrdeutigen Konzepts (S. 61–102). Münster New York: Waxmann.
Merkens, H. (2019). Bildungsgerechtigkeit. Eine nicht einlösbare Herausforderung? In J. Bellmann & H. Merkens (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit als Versprechen: zur Rechtfertigung und Infragestellung eines mehrdeutigen Konzepts (S. 279–286). Münster New York: Waxmann.
Nerowski, C. (2018). Leistung als Kriterium von Bildungsgerechtigkeit. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 21(3), 441–464. https://doi.org/10.1007/s11618-017-0775-x