Prinzipienethik
Begriffsklärung
Natürlich ist die Diskussion der verschiedenen ethischen Theorien herausfordernd, spannend und interessant. Doch im Alltag in Schule, Therapie oder auch Medizin, Umwelt, Politik, usw. sind oft schnelle Entscheidungen gefragt, die trotzdem moralisch vertretbar sind. Die beiden Philosophen und Ethiker Tom Beauchamp und James Childress verfassten daher auf dem Hintergrund dieser Überlegung das Buch Principles of biomedical Ethics (1979), in welchem sie vier allgemeine Prinzipien vorstellen, denen (fast) jeder zustimmen kann. Sie werden das kleinste gemeinsame Vielfache oder sogenannte Mittlere Prinzipien der ethischen Theorien genannt. Die mittleren Prinzipien sind: Autonomie, Nicht Schaden, Gerechtigkeit und Fürsorge.
Erläuterungen
Die beiden Ethiker Beauchamp an Childress setzten sich in den 70-er Jahren das Ziel, insbesondere für die Medizin, eine Standardtheorie zu entwickeln, um besser mit moralischen Herausforderungen bei sensiblen Entscheidungen umgehen zu können.
Im Alltag handeln Menschen bewusst oder unbewusst nach moralischen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Manche orientieren sich ganz explizit an ethischen Theorien: Beispielsweise ‘Fördere den grösstmöglichen Nutzen für eine grösstmögliche Zahl von Menschen’ (Utilitarismus) oder ‘Bilde deinen Charakter so, dass du in allen Situationen angemessen handeln kannst’ (Tugendethik). Manche kommen mit dem berühmten Bauchgefühl zum selben Entscheid. Was aber, wenn verschiedene Stakeholder an einem Entscheid beteiligt sind, die nach ganz unterschiedlichen Überzeugungen und Werten handeln würden. Für diese, meist sehr heiklen Entscheidungen, die oft zudem noch unter Zeitdruck gefällt werden müssen, versuchen Beauchamp und Childress eine Entscheidungshilfe zu schaffen. «Beauchamp und Childress behaupten allerdings nicht, eine abschliessende und in sich schlüssige Theorie entworfen zu haben, mit der alle irritierenden Situationen eindeutig gelöst werden können. Vielmehr sind sie der Meinung, dass in jeder dieser Situationen zunächst einmal geklärt werden muss, was ihre vier Prinzipien bedeuten» (Keller & Wallimann-Helmer, 2018, S. 32). In einem zweiten Schritt werden die Prinzipien gegeneinander abgewogen (Siehe Reflexionsschema, unten) bzw. jeweils fallbezogen interpretiert. Die vier Prinzipien sind so etwas wie die „Leitbegriffe“ des moralischen Diskurses auf mittlerer Reichweite geworden. Sie gelten überdies prima facie, d.h. solange sie mit einem anderen Prinzip nicht in Konflikt geraten.
Die Prinzipienethik ist in der Medizin und Pflegeberufen heute verankert, längst aber auch in der Sozialen Arbeit, Umweltethik und in der Pädagogik gut vertreten. Auch die Prinzipienethik hat ihre Mängel, so sind die vier Prinzipien relativ eng gefasst, auch in der Prinzipienethik steht am Ende eine durch Menschen gefasste Entscheidung, die unter Umständen zu einem anderen Zeitpunkt anders hätte ausfallen können. Jeder Einzelfall erfordert eine spezifische ethische Beurteilung.
Beauchamp und Childress verfolgen die von John Rawls, einem Ethiker, der grossen Wert auf Gerechtigkeit legt, vorgeschlagene Methodik des Überlegungsgleichgewichts: Für die Beurteilung einer Situation ist das Verständnis der ethischen Prinzipien notwendig. Doch die allgemeinen und abstrakten Prinzipien müssen mit dem alltäglichen Moralverständnis vereinbar sein. Sie sind also nur dann gültig, wenn sie mit dem alltäglichen Moralverständnis vereinbar sind. Geht man mir der Methode des Überlegungsgleichgewichts vor müssen ethische Urteile immer gegenüber den eigenen Moralvorstellungen abgewogen werden. Dazu gibt es bei Beauchamp und Childress zwei Verfahrensschritte:
Interpretation: Ausgehend vom Einzelfall muss überlegt werden, wie die fallspezifischen Fakten und das moralische Verständnis in Einklang gebracht werden können. Erst eine erfolgreiche Interpretation bzw. Spezifikation erlaubt ein Überlegungsgleichgewicht.
Gewichtung: Da im Alltag meist mehrere Prinzipien von Bedeutung sind, ist es nicht so, dass alle Prinzipien in einem Einzelfall dasselbe Gewicht haben. Deshalb gehört zu einer ethischen Entscheidungsfindung auch dazu, die verschiedenen Prinzipien gegeneinander abzuwägen.
Reflexionsschema
Beispiel: Georg (11 Jahre, Trisomie 21) möchte seinen Schulweg gerne alleine, ohne Begleitung der Mutter oder der Klassenassistentin bewältigen. Georg wird beschrieben als „Hans Guck in die Luft“, trödelt gerne, kann Gefahren relativ gut einschätzen. Er kennt die Regeln im Strassenverkehr und hält sich meistens daran.
Autonomie: In seinem Alter möchte er bestimmt auch mal unabhängig und unkontrolliert Zeit verbringen. Den Weg in die Schule bzw. nach Hause findet er ohne Probleme.
Fürsorge: Es ist schon möglich, dass er mal bei Orange noch schnell die Strasse überquert, um ihn vor einem Unfall zu schützen, sollte er begleitet werde
Nicht Schaden: Wenn er seinen Weg nie allein machen kann, ist seine Entwicklung in den Bereichen Selbständigkeit und Selbstbewusstsein möglicherweis massiv beeinträchtigt.
Gerechtigkeit: Alle Kinder im Alter von 11 Jahren dürfen auch mal alleine unterwegs sein.
Nun gilt es abzuwägen, welchen Punkt man als wichtiger einschätzt, welche Handlung und welches Handlungsziel man erreichen möchte.
Links
- Entscheidungssituationen: Retterbabies
Quelle
- Wallimann-Helmer, I. ; Keller, M. (2018): Ethik für medizinische Berufe. Zürich. Versus Verlag AG.
- Illustration: (vgl. zm-online.de/archiv/2011/12/titel/ethik-fuer-die-praxis, Zugriff am 20.04.2020)
- Reflexionsschema, Arn 2022, Skript unveröffentlicht